Wir sind wieder wir
Der VfL Wolfsburg hat in der Hinrunde dieser Saison nicht nur zum Erfolg zurückgefunden. Sondern auch zu sich selbst. Eine Bestandsaufnahme von Andreas Pahlmann
Als Koen Casteels die Freistoßflanke von Jonathan Schmid sicher abgefangen hat, steht Yannick Gerhardt noch am eigenen Elfmeterpunkt. Langsam trabt der Mittelfeldspieler an, während sein Torwart nach dem richtigen Ziel für seinen Abschlag Ausschau hält. Die letzten beiden Minuten des Bundesliga-Spiels zwischen dem FC Augsburg und dem VfL Wolfsburg haben gerade begonnen, es steht 2:2. In solchen Spielmomenten sieht man Mannschaften an, ob sie Angst vorm Verlieren oder Lust aufs Gewinnen haben. Yannick Gerhardt hat erst einmal Lust zu laufen.
In einer Mannschaft, die mit dem Unentschieden zufrieden wäre, hätte der Torwart womöglich genau einen Zielspieler für seinen Abschlag gefunden, einen Konterstürmer, den er mit einem langen Ball und vielen guten Wünschen auf die einsame Reise in die gegnerische Hälfte hätte schicken können. Casteels hat in der 89. Minute des letzten Hinrundenspiels gleich fünf Optionen. Neben Gerhardt, der sein Tempo gesteigert und im Moment des Abschlags schon fast den Mittelkreis erreicht hat, auch noch Daniel Ginczek, Wout Weghorst und William auf derselben Höhe, dazu Renato Steffen, der beim Schmid-Freistoß die Ein-Mann-Mauer gebildet hatte und auf der rechten Seite früher als alle anderen losgelaufen war.
Casteels entscheidet sich für Steffen, und während der Ball nach dem präzisen Abschlag durch die Luft segelt, laufen die vier anderen weiter, werden dabei schneller. Keiner der fünf denkt in diesem Moment daran, dass ihr Team das Spiel trotz 2:0-Pausenführung auch hätte verlieren können, ja immer noch verlieren kann. Und so hat Steffen, obwohl er vom japsenden Schmid noch eingeholt wird, gleich mehrere Optionen für seinen Ball von außen. Er kann sicher spielen, kurz auf William etwa oder parallel zur Strafraumkante auf Weghorst. Oder am langen Pfosten Ginczek suchen, der den Konter höchstwahrscheinlich abschließen wird, erfolgreich oder nicht. Die Mitte, die Zone vorm Tor, ist für Steffens Hereingabe die schwierigste, weil bereits vier Augsburger dort den Raum knapp werden lassen. Es ist aber auch der aussichtsreichste Bereich für eine Torchance, weil Gerhardt einfach durchgelaufen ist. Steffen wählt die Gerhardt-Option, und sie funktioniert. 15 Sekunden nachdem Casteels den Ball gefangen hat, liegt er im Augsburger Netz. Der VfL gewinnt mit 3:2 und beendet die Hinrunde damit auf dem fünften Platz.
In Spielmomenten wie vor dem 3:2 in Augsburg sieht man Mannschaften an, ob sie Angst vorm Verlieren haben oder Lust aufs Gewinnen
Wenn der VfL auf Schalke in die Rückrunde startet, tut er das aus einer komfortablen Situation heraus. Nur dreimal in seiner Bundesliga-Geschichte stand Wolfsburg vor einem 18. Spieltag in der Tabelle besser da als jetzt. Und noch nie war er auswärts so gut. Die Gier, mit der der VfL das letzte Tor des Jahres wollte, wird aus einem Selbstbewusstsein gespeist, das sich Team und Trainer erarbeitet haben.
Wobei „Selbstbewusstsein“ in diesem Fall nicht nur die Kenntnis der eigenen Stärke meint – sondern eben im Wortsinn auch das Bewusstsein dafür, wer man selbst eigentlich ist. Anders gesagt: Der VfL Wolfsburg erlangt gerade wieder etwas zurück, was ihm in den beiden Fast-Abstiegsjahren noch mehr gefehlt hat als sportlicher Erfolg: eine eigene Identität. Und die fußt nicht auf irgendwelchen Floskeln vom Arbeiterklub (der der VfL im Grunde nie war), sondern darauf, dass Verein und Team mehr sein können als die Summe ihrer Teile. So ist Wolfsburg 1997 aufgestiegen, so hat sich Wolfsburg in der Bundesliga etabliert, so ist Wolfsburg vor zehn Jahren Meister geworden.
Der Wolfsburger Fussballfan hat wieder eine Mannschaft, die er als die seine akzeptiert
Wäre Bruno Labbadia erst Mitte 30 und würde er dazu auch noch jeden Tag mit Laptop im Rucksack auf dem Fahrrad zum Training kommen, würde er womöglich als der hipste Konzepttrainer seit Ralf Rangnick zu Ulmer Zeiten für Schlagzeilen sorgen. Weil er aber als vermeintlicher Feuerwehrmann der Liga schon ein Image hat und weder mit Fremdwörtern noch mit Schachtelsätzen hantiert, wird er gern auch mal belächelt. Zu Unrecht, denn die VfL-Ausrichtung mit ¬ fließenden Übergängen von einem Drei-Stürmer-System hin zur Mittelfeldraute mit zwei Spitzen und wieder zurück gibt dem Spiel seiner Mannschaft taktisch etwas Spezielles – und ist damit auch ein Teil der neuen Wolfsburger Identität. Weil dieses taktische Konzept viel Laufbereitschaft und damit viel Fleiß erfordert, wirkt das Zusammenspiel der Worte „Arbeit“, „Fußball“ und „Leidenschaft “ echt. Bei den Fans kommt das an, was man in der Volkswagen-Arena vor allem dann hört und sieht, wenn das Scheitern kurz zurückkommt, wenn das Spiel grad mal nicht gut läuft . Als Reaktion gibt es dann statt Pfiffen Aufmunterung. Der Wolfsburger Fußball-Fan hat wieder eine Mannschaft , die er als die seine akzeptiert. Wir sind wieder wir.
In den Ohren von Jörg Schmadtke klingt das wahrscheinlich alles viel zu positiv, weshalb der Manager und Sportdirektor schon mal vorsorglich bremst, ehe der Euphoriezug Fahrt in die falsche Richtung aufnimmt. „Wir müssen aufpassen“, sagt er, „dass wir uns nicht in eine Glückseligkeit reinquatschen.“ Sprich: Was gut war, bleibt nicht von ganz alleine gut. In Schmadtkes Worten: „Die Bundesliga ist ein kompliziertes Gebilde. Da musst du deine Leistung abrufen.“ Und dass dieser fünfte Platz nun Europa-Träume auslösen müsste, davon will Schmadtke schon gleich gar nichts wissen: „Wir versuchen nicht schon wieder, irgendwelche Erwartungshaltungen aufzubauen.“ Der entscheidende Teil des letzten Satzes ist „schon wieder“. Denn weil der VfL nun mal Teil eines global agierenden Autobau-Imperiums ist, wird allzu schnell vorausgesetzt, dass auch die Ansprüche an die Fußball spielende VW-Tochter zwingend internationaler Natur sein müssten. Von dieser vermeintlichen Zwangsläufigkeit getrieben, hat sich der VfL in den vergangenen Jahren so oft vergaloppiert, dass am Ende zweimal fast der Abstieg stand. Schmadtke hat diese Erfahrung mit dem VfL nicht selbst durchlebt, aber er ist erfahren und schlau genug, trotzdem die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen. Er habe, so sagt er selbst, ein vernünftiges Selbstverständnis – das reiche, „um zu wissen, was sinnvoll ist“.
Der VfL hat Enorm an Profil gewonnen und daraus Selbstbewusstsein entwickelt
Mit dieser Unaufgeregtheit hatte der 54-Jährige auch die sportlich schwierige Phase im Frühherbst moderiert, als der Wolfsburger Liga-Ertrag eine Delle hatte. Dass seine besänftigenden Worte nach verlorenen Spielen mit Schönrednerei nichts zu tun hatten, zeigte der Hinrunden-Schlusspurt mit 16 Punkten aus sechs Spielen. Auch das schafft Glaubwürdigkeit. Gleiches gilt für die Neuzugänge Wout Weghorst, Daniel Ginczek und Jerome Roussillon, die nicht bei der Verp¬flichtung für ein allgemeines „Wow!“ sorgten und dann enttäuschten – sondern die sich das „Wow!“ durch Leistung nach und nach erarbeitet haben. Dass Marcel Schäfer als Sportdirektor zurückkam, tat sein Übriges, der VfL hat eine Führung, die geschlossen wirkt. Und mit der macht der VfL auch neben dem Platz eine gute Figur. Schmadtkes klare Worten gegen die AfD („In meinen Augen ist diese Partei nicht wählbar“), die Regenbogen-Binde aller Kapitäne als Zeichen gegen Ausgrenzung, das Engagement in der Region im Rahmen der Aktion „Gemeinsam bewegen“ und der Beteiligung an der Hashtag-Aktion #nazisraus auf Twitter – all das ließ den VfL enorm an Profil gewinnen. Auch daraus hat er ein Selbstbewusstsein entwickelt, das vielfältig wirkt. Auch auf dem Platz. Nicht nur beim Siegtor in Augsburg, dort aber besonders anschaulich komprimiert.
Dass taktische Raffinesse, klares Profil und die daraus resultierende VfL-Identität noch lange keine Garantien für eine gute Rückrunde sind, ist Schmadtke und Labbadia klar. Beide haben genug Liga-Erfahrung, um zu wissen, dass gute Hinrunden-Teams nach der Winterpause auch schon mal „total weggebrochen“ (Schmadtke) sind. Und das Wolfsburger Startprogramm hat es in sich: Erst geht‘s zu Schalke 04, wo das Wiedergutmachungs-Bedürfnis enorm hoch ist, dann kommt Leverkusen mit neuem Trainer, ehe das Spiel bei der Berliner Hertha ansteht, deren Team eigentlich deutlich besser ist als der aktuelle Tabellenplatz. Mehr noch als in der Hinrunde werden die Gegner zudem Mittel gegen das Wolfsburger Wechselspiel zwischen Rautenformation und 4-3-3 suchen und finden, wird das VfL-Laufvermögen gefordert sein, wenn sich im April körperliche und mentale Belastungen der Saison aufsummiert haben.
„Ich kann mir vorstellen, hier noch fünf Jahre zu bleiben - wenn es sportlich gut läuft“
Auch auf Nebengeräusche muss sich der VfL vorbereiten. Dass er mit einem Trainer in die Rückrunde geht, dessen Vertrag nur bis Saisonende läuft, kann für viel Spekulationsstoff und Unruhe sorgen, zumal man ein Zögern des Vereins allzu schnell als Misstrauen gegen Labbadias Perspektive interpretieren kann. Allerdings ist nach den Erfahrungen der letzten Monate zu erwarten, dass Schmadtke auch solche Störfeuer mit seiner Unaufgeregtheit ziemlich locker wegmoderiert.
Und dann? „Mit den Möglichkeiten, die der VfL hier hat, und so, wie er in der Stadt eingebunden und akzeptiert ist, muss er in der Lage sein, im ersten Drittel der Liga mitzuspielen. Sonst würden wir zu viel Geld ausgeben“, sagte Ex-VfL-Geschäftsführer Wolfgang Hotze in seinem Abschieds-Interview im November. Das ist – trotz der guten Ausgangslage – sicherlich noch kein Auftrag für diese Saison, aber gewiss eine vor allem aus Volkswagen-Sicht mittelfristige Ehrgeiz-Perspektive, die Schmadtke und der VfL aus der aktuell eher demütig-bescheidenen Konstellation entwickeln müssen. Läuft‘s gut, schaffen sie einen VfL Wolfsburg, der Europa erreichen kann – und der dabei ein VfL Wolfsburg bleibt, dem man ein Scheitern nicht übel nimmt.