So feierte Wolfsburg das erste Olympiagold

         
6000 Menschen auf den Straßen: Mit Hildegard Falck an der Spitze fuhren die Wolfsburger Olympia-Teilnehmer 1972 nach der Rückkehr aus München durch die Stadt. Fotos: NOP72 Imago Images Rust 0010590531 WAZ-Archiv Gero Gerewitz
6000 Menschen auf den Straßen: Mit Hildegard Falck an der Spitze fuhren die Wolfsburger Olympia-Teilnehmer 1972 nach der Rückkehr aus München durch die Stadt. Fotos: NOP72 Imago Images Rust 0010590531 WAZ-Archiv Gero Gerewitz
Eine Leichtathletin, ein Judoka, ein Fußballer und fünf Fußballerinnen: Insgesamt acht Goldmedaillen gab es bei Olympischen Spielen für den VfL Wolfsburg. Die erste holte Hildegard Falck 1972 in München über 800 Meter. Keine Sensation, aber ein Meilenstein – und ein Erfolg, der 6000 Wolfsburger auf die Straße trieb.  

Ihre Karriere war kurz. Aber sportlich hatte sie in dieser kurzen Zeit alles erreicht. Die Geschichte des VfL Wolfsburg bleibt untrennbar mit Hildegard Falck (71) verbunden. Weltrekord über 800 Meter lief sie, blieb als erste Frau über diese Distanz unter zwei Minuten. Und wiederholte dieses Kunststück kaum ein Jahr später, was ihr Gold bei den Olympischen Spielen 1972 bescherte. Aus München kehrte sie noch mit einer weiteren Medaille zurück. Gold und Bronze bei einer Teilnahme – das blieb einmalig in der Klub-Geschichte.
Siegerehrung: Hildegard Falck bekommt Gold nach einem großen 800-Meter-Lauf.
Siegerehrung: Hildegard Falck bekommt Gold nach einem großen 800-Meter-Lauf.
Ihr Weltrekord über 800 Meter in Stuttgart war eine Sensation gewesen. Ins Gedächtnis aller Zeitgenossen aber prägte sich ihr Triumph in München ein – dank der medialen Präsenz und des langsam aufkommenden Farbfernsehens.

Die Fragen bei 80.000 Zuschauern im Olympiastadion und den Millionen vor dem TV an jenem 3. September waren: Wann kommt sie auf? Kommt sie da durch? Wird es klappen? Denn nach 600 Metern lief sie immer noch hinter gut einem halben Dutzend Läuferinnen.

Dann kam „der Moment, an ich mich immer wieder intensiv erinnere, die entscheidenden, letzten 150 Meter, wo ich mich durchgeschlängelt habe. Für die Zuschauer war es gar nicht so ersichtlich, aber ich konnte die Lücken erkennen.“ Sie schoss auch an der für die Sowjetunion startenden Litauerin Nijole Sabaite vorbei, strebte unter dem Tosen des Publikums der Ziellinie entgegen. Die Konkurrentin kam auf, Falck blieb cool, „ich hatte sie seitlich im Blick“. Danach konnte sie genießen. „Es ist nicht so wie heute, dass man gleich Interviews geben muss, der Innenraum war von Reportern abgeschottet“, sagt Hildegard-Falck-Kimmich, die in den 70ern noch einmal geheiratet hat, mit ihrem Mann im Breisgau lebt.
Richtfest ihn Ehmen: Hildegard Falck ein Jahr nach ihrem Olympia-Triumph.
Richtfest ihn Ehmen: Hildegard Falck ein Jahr nach ihrem Olympia-Triumph.
In einer Zeit, in der drei (!) TV-Programme in der Regel erst nachmittags ab etwa 14 Uhr ihren Sendebetrieb aufnahmen, kamen Glückwünsche nicht per E-Mail oder per Whatsapp. Viele kamen per Telegramm, manche schickten Blumen – etwa Minister Hans-Dietrich Genscher. „Blumen und Telegramm“, erinnert sich Falck-Kimmich. Ein Telegramm ist ihr besonders in Erinnerung geblieben: „In Wolfsburg bin ich viel im Hasselbachtal gelaufen, da bin ich oft einem Mann mit einem Dackel begegnet: Wie er heißt, wusste ich nicht. Nach dem Olympiasieg kam ein Telegramm ,Herzliche Glückwünsche zum Olympiasieg vom Mann mit dem Dackel aus dem Hasselbachtal‘. Ich habe ihn Jahre später dann mal bei einer Ehrung getroffen, da kam er aus dem Publikum auf mich zu, ich habe ihn sofort erkannt...“

Nach der Olympia-Abschlussfeier flog sie nach Berlin, wo das ISTAF steigen sollte. „Es fiel aus. Ich bin dann weiter nach Hannover geflogen, dann in den Zug nach Wolfsburg. Eine Frau schaute mich mit großen Augen an, sagte ,Hildegard Falck? Und Sie sitzen hier im Zug?‘ Eine Olympiasiegerin im Zug, das hatte sie wohl nicht erwartet. Aber es ging für mich in der Schule weiter. Tags darauf war ich wieder im Unterricht.“ In einer Wolfsburger Realschule lehrte sie Sport.
Hildegard Falck-Kimmich 2015 beim 70. VfL-Geburtstag.
Hildegard Falck-Kimmich 2015 beim 70. VfL-Geburtstag.
In Wolfsburg folgte einige Tage später ein Empfang und ein Großereignis, wie es das in dieser Größenordnung erst 2009 wieder geben sollte. Für Fußballer. Rund 6000 Menschen säumten die Straßen, als ein Autokorso durch die Stadt rollte. Das Auto mit Falck führte den Konvoi an. „Unwahrscheinlich viele Menschen auf der Straße, sie wollten die Medaillen aus der Nähe sehen, das war schon sehr intensiv.“ Es war auch die Zeit, in der der VfL im Sport eine Hausnummer geworden war. Falck-Kimmich: „Im Konvoi waren mit Klaus Glahn, Heinz Mayer, Hajo Geisler und Horst Beyer noch vier weitere VfL-Teilnehmer der Spiele in München. Ein Judoka, ein Schwimmer, zwei weitere Leichtathleten.“

Ein Jahr zuvor, mit knapp 22, war Falck-Kimmich förmlich ins Rampenlicht gestürmt – mit dem Weltrekord. Akribisch hatte Trainer Werner Riechmann, der die gebürtige Nettelrederin schon bei Hannover 96 betreut hatte, die Athletin darauf vorbereitet. Geplant war das nicht. Aber: Wie schnell sie bei optimalem Verlauf sein können, das wissen Lauf-Asse. Das wusste auch sie. Die Umstände hatten jedoch nicht für einen Rekord gesprochen. Am Tag vor dem Wettkampf und in der Nacht war es ultraheiß. Um der Hitze zu entgehen, übernachtete sie im Keller ihres Quartiers.
VfLerinnen auf der Bahn: Hildegard Falck beim Leichtathletikabend 1973 in der Kreuzheide
VfLerinnen auf der Bahn: Hildegard Falck beim Leichtathletikabend 1973 in der Kreuzheide
Sie hörte früh auf. „Es war eine andere Zeit, man musste sich überlegen, wie es weitergeht.“ Prämie für den Olympiasieg? „Nix“, sagt sie. „Kurz nach dem Olympiasieg wurde meine Zeit gebrochen, von Läuferinnen aus Osteuropa, man wusste ja , dass da viel mit Doping gemacht wurde und diese Athletinnen nicht gearbeitet haben. Ich hatte ja immer mein Standbein. Das war der Beruf. Das hat mir Unabhängigkeit verliehen. Ich hatte keinen Kofferträger, keinen Arzt und Masseur, nicht ständig jemanden, der mich betüddelt hat. Ich habe alles selbst gemacht. Und ich wollte nicht aufhören zu arbeiten. Heute würde ich vielleicht anders entscheiden.“

1974 startete sie nur über 400 Meter, die 4x400-Meter-Staffel bei der EM in Rom war der Abschluss. „Zur Bundestrainerin habe ich gesagt: ’Ich glaube, das war mein letzter Lauf.’ Und sie meinte: ’Das habe ich mir schon gedacht.’“ Für den VfL nahm sie noch eine Weile an Veranstaltungen teil.

Dem Laufen frönt Falck-Kimmich, die seit 1972 kein Gramm zugenommen hat, immer noch „altersgemäß, aber dreimal die Woche“. Und die Beziehung nach Wolfsburg ist immer geblieben. „In erster Linie zu denen, mit denen ich gemeinsam trainiert habe, wie Karla Tilke, Bärbel Poguntke und Hannelore Heyn, mit der ich sehr viel Dauerlauftraining gemacht habe.“ Das frühe Karriere-Ende hat sie nie bereut: „Es war im richtigen Moment“. Text: Jürgen Braun

Zwei besondere Weltrekorde

Ihr Gold-Lauf wird ewig in Erinnerungen bleiben, in den Sport-Geschichtsbüchern stand Hildegard Falck schon vorher. 1971 lief sie bei den deutschen Leichtathletik-Meisterschaften im Stuttgarter Neckarstadion als erste Frau der Welt die 800-Meter- Distanz unter zwei Minuten. In elektronisch gestoppten 1:58,3 Minuten verbesserte sie den Weltrekord der Jugoslawin Vera Nikolić gleich um 2,5 Sekunden. Gut einen Monat vor Olympia war Falck 1972 zudem in Lübeck Teil der deutschen Weltrekordstaffel über die nichtolympischen 4x800 Meter.
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