Der Adler-Fluch und ein frühes Tor-Trio 

20 Jahre, 20 Geschichten – Die AZ/WAZ-Serie zum Bundesliga-Jubiläum des VfL (9): Die deutschen Nationalspieler

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Traf als Wolfsburger für Deutschland in Wolfsburg: Tobias Rau beim 4:1 gegen Kanada.


Es regnete in Strömen, und der graue Himmel über Kopenhagen bot wenig Verheißung. Das erste deutsche Länderspiel nach der WM 2010 wärmte den Betrachter an diesem unfreundlichen August-Tag auch nicht auf. Ohne seine Top-Stars führte das DFB-Team mit 2:0, ehe zwei späte Tore der Dänen für den 2:2-Endstand sorgten. Ein Länderspiel für die hinteren Ecken der Archivkiste, eines, das man eigentlich nie wieder rauskramen muss.

Es sei denn, man interessiert sich für den VfL Wolfsburg.

Nicht weniger als acht (!) der 15 von Bundestrainer Jogi Löw im Parken-Stadion eingesetzten deutschen Fußballer spielten damals für den VfL, hatten zuvor für den VfL gespielt oder sollten später mal für den VfL spielen: Marcel Schäfer und Sascha Riether als aktuelle VfLer, Christian Gentner als Ex-VfLer sowie Kapitän Thomas Hitzlsperger, Christian Träsch, Aaron Hunt, Torschütze Mario Gomez und Torschütze Patrick Helmes als spätere VfLer. Kein deutsches Länderspiel hatte so viel Wolfsburg-Bezug.

Mit Sebescen fing es 2000 an

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Premiere: Zoltan Sebescen war im Februar 2000 der erste VfL-Fußballer, der für die deutsche A-Nationalmannschaft auflief. dpa
Die meisten dieser Namen stehen aber auch für den Wolfsburger Adler-Fluch. Denn VfLer im Trikot der deutschen A-Nationalmannschaft wurden selten glücklich. Es fing schon mit Zoltan Sebescen an, dem ersten der mittlerweile 16 Wolfsburger A-Nationalspieler. Von Bundestrainer Erich Ribbeck falsch als Rechtsverteidiger eingesetzt, kam Sebescen am 23. Februar 2000 in der Amsterdam-Arena mit seinem holländischen Gegenspieler Boudewijn Zenden überhaupt nicht klar, musste zur Pause raus und kam nie wieder. Tobias Rau, Wolfsburgs zweiter deutscher Nationalspieler, hatte da schon mehr Glück: fünf Länderspiele machte er als VfLer, schoss das erste Wolfsburger Tor ausgerechnet in Wolfsburg (beim Testspiel- 4:1 gegen Kanada am 1. Juni 2003) und ging dann zu den Bayern.

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Torjäger, die schon als Nationalspieler zum VfL gekommen waren: Thomas Brdaric
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Mike Hanke



Wolfsburger Tore für Deutschland blieben zunächst Mangelware. Thomas Brdaric macht in vier Länderspielen eines, Mike Hanke in sechs Partien keines, Marcel Schäfer (acht Spiele), Alexander Madlung (zwei), Christian Gentner (vier), Sascha Riether (zwei) und Christian Träsch (drei) waren fürs Torschießen nicht eingeteilt.

Dafür sorgte Arne Friedrich für eine statistische Besonderheit: Er wechselte im WM-Jahr 2010 von Hertha BSC zum VfL, war ab 1. Juli offiziell Wolfsburger und traf für Deutschland im WM-Viertelfinale gegen Argentinien am 3. Juli – ein Tor als VfLer, ehe er überhaupt einmal für den VfL gespielt hatte. Am Ende waren es dann insgesamt sechs Länderspiele als Wolfsburger, die Friedrich absolvierte.

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Die Rekordhalter: André Schürrle absolvierte 13 Länderspiele als VfLer 
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Julian Draxler zwölf
Schürrles Dreierpack

Rau, Brdaric, Friedrich – bei diesem VfL-Tor-Trio für Deutschland blieb es, bis sich die Zeiten änderten und Wolfsburg deutsche Nationalspieler für viel Geld einkaufte. VfL-Stürmer André Schürrle (mit 13 Länderspielen als VfLer Rekordhalter!) schnürte im Juni 2015 gegen Gibraltar einen Dreierpack, Max Kruse (ein Spiel) und Julian Draxler (zwölf Spiele) waren ebenfalls erfolgreich. Aber auf ihre eigene Art setzten auch sie den Adler-Fluch fort: Während allerdings Sebescen, Madlung und Co. im DFB-Trikot nie richtig glücklich wurden, spielten Schürrle, Draxler und (seltener) Kruse im Nationalteam oft stark, wurden aber im VfL-Trikot nicht glücklich. Ob sich Mario Gomez, der erfahrenste deutsche Nationalspieler, den Wolfsburg jemals verpflichtete, dort irgendwo einreiht, wird womöglich erst die WM 2018 zeigen.

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und Marcel Schäfer acht. dpa/Imago 06311703
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Er traf als Wolfsburger, bevor er der erste Mal für den VfL spielte: Arne Friedrich im WM-Viertelfinale 2010. Imago 6123519 
Im Schatten der Wolfsburger Zig-Millionen-Einkäufe mit Adler-Erfahrung haben sich derweil zwei weitere VfLer ins Nationalteam gespielt. Der eine, Maxi Arnold, ist das einzige Wolfsburger Eigengewächs, das für Deutschland ein A-Länderspiel bestritt – im Mai 2014 zwar mit einer Art Nachwuchs-B-Elf (die Bayern- und Dortmund-Spieler fehlten), aber für die Statistik zählt‘s. Der andere, Yannick Gerhardt, rückte zwar schon als Kölner in Jogi Löws Blickfeld, feierte sein Nationalmannschafts- Debüt am 15. November 2016 gegen Italien aber erst nach seinem Wechsel zum VfL. Beide sind jung genug, um von vielen weiteren Einsätzen im DFB-Team träumen zu dürfen. Und vielleicht auch auf Dauer gut genug, um den Adler-Fluch zu besiegen.

Nächsten Mittwoch Das Team hinter dem Team  

In dieser Woche vor 20 Jahren 


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Drei Tore gegen Essen: Wolfsburgs US-Boy Chad Deering.
Im Frühjahr 1997 liegt Essen 15 Plätze und 17 Punkte hinter dem VfL. In einem anderen Bereich hat der Traditionsverein aus dem Ruhrpott allerdings die Nase vorn. Während Wolfsburg erst ein Jahr später mit Wolfgang Wolf einen Trainer verpflichtet, der vom Namen her so perfekt zur Stadt passt, als hätte eine Marketing-Agentur ihre Hände im Spiel gehabt, legen die Rot-Weissen bereits am 20. März 1997 vor.

Essen kommt mit Brei. Dieter Brei. zwei Tage, nachdem der ehemalige Bundesliga-Profi das Traineramt beim Zweitliga-Schlusslicht übernommen hat, feiert er im Gastspiel beim VfL seine Feuertaufe. „Jetzt starten wir eine neue Meisterschaft“, sagt Brei bei seinem Amtsantritt. „Mit 13 Spieltagen.“

Letztlich sind‘s nicht viele Köche, die den Brei(-Start) verderben, sondern Chad Deering. Während Michael Spies und Roy Präger jeweils ein Tor beisteuern, schnürt Wolfsburgs US-Boy einen Dreierpack. So zünden die Gastgeber nach 45 mäßigen Minuten (1:1) doch noch ein 5:1-Feuerwerk, Deering bleibt trotz der Entdeckung seines Torriechers bescheiden: „Die Flanken waren einfach genial. Wenn ich die nicht reinköpfe, brauche ich nicht mehr Fußball zu spielen.“

Wolfsburg siegt sich also in Richtung Bundesliga – und keiner kriegt‘s mit. zumindest ist der Kreis relativ überschaubar. Nur 3100 Fans verirren sich gegen Essen ins VfL-Stadion, auch Trainer Willi Reimann („Die Mannschaft hat mehr verdient“) wundert‘s. An der Zuschauertabelle ist das Dilemma schwarz auf weiß abzulesen, die Grün-Weißen sind Drittletzter. Ein Mangel an Aufmerksamkeit droht ihnen im bevorstehenden Spitzenspiel beim 1. FC Kaiserslautern allerdings nicht – pro Partie pilgern mehr als 36.000 Menschen auf den Betzenberg.

„Ich lasse mir das nicht schlechtreden“ 

16 VfLer haben für die deutsche A-Nationalmannschaft gespielt – Zoltan Sebescen war der erste. Und er war auch der erste Groß- Verkauf des VfL, wechselte 2001 für 12,5 Millionen Mark zu Bayer Leverkusen, wo der heute 41-Jährige 2004 seine Karriere beenden musste.

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Mit welchem Gefühl denken Sie an Ihr einziges Länderspiel zurück?

Mit Stolz, immer noch. Auch wenn es sportlich vielleicht nicht so gut lief, habe ich mir das Erlebnis nie schlechtreden lassen, von niemandem. Ich habe für Deutschland gespielt, das ist was ganz Besonderes!

Erinnern Sie sich an einen Moment ganz besonders?

Ja, der war am Tag vor dem Spiel. Ich hatte gerade von Bundestrainer Erich Ribbeck erfahren, dass ich von Beginn an spiele und saß allein in einem ziemlich großen Hotelzimmer. Ich hab‘ dann den Betreuer meines Ex-Klubs Stuttgarter Kickers angerufen, mit dem ich immer noch befreundet bin, und ihm gesagt: „Du, ich weiß gar nicht, was hier gerade passiert.“

Hatten Sie das Gefühl, dass der missglückte Kurzauftritt Ihrer Karriere schaden könnte?

Am Anfang schon, es war ja tagelang überall nur Negatives über mich zu lesen. Wichtig war, dass mich VfL-Trainer Wolfgang Wolf sofort wieder aufgestellt hat – keine zwei Wochen später habe ich beim 4:4 gegen den HSV drei Tore geschossen. Plötzlich sprach keiner mehr über das Länderspiel. Im Nachhinein kann ich sagen: Es war ein Lernprozess, der mich weitergebracht hat. Ich wusste danach, wie es ist, mal richtig auf die Fresse zu kriegen.

Sie wechselten danach zu Bayer Leverkusen, standen im Champions-League-Finale und mussten Ihre Karriere wegen anhaltender Knie-Probleme mit 29 beenden – war das schwer zu verarbeiten?

Schwer war vor allem, sich in der Reha zu quälen und dabei zu wissen, dass man sein letztes Spiel vielleicht schon gemacht hat. Das war hart.

Dem Fußball blieben Sie erhalten...

Ich arbeite in der Beratungsagentur von Martin Wiesner, bin viel unterwegs, betreue junge Spieler – und freue mich immer, wenn mich mein Job mal wieder nach Wolfsburg führt.

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