Gut wenn's bleibt

Der VFL vor der Ruckrunde
Gut wenns bleibt Image 1
Man mag es irgendwie kaum glauben, aber mittlerweile ist auch Oliver Glasner ein Sinnbild für Wolfsburger Kontinuität geworden. Der Rückrunden-Start gegen Leverkusen ist für den Österreicher bereits das 52. Bundesliga-Spiel auf der Bank des VfL. Nur Wolfgang Wolf, Klaus Augenthaler, Felix Magath und Dieter Hecking absolvierten mehr Partien als verantwortliche Übungsleiter der Niedersachsen. Während die anderen vier allerdings schon vor ihrer VfL-Zeit alte Bundesliga-Hasen waren, wirkt Glasner manchmal immer noch wie ein Lernender.

„Unsere Kaderpolitik behandeln wir intern“, sagte er beispielsweise Ende Dezember – und machte keinen Hehl daraus, dass in diesem Satz auch ein Stück weit Erfahrung aus dem Transferzoff steckte, den er wenige Wochen zuvor ausgelöst hatte. Er hätte gern einen Spieler mit „mehr Tempo und Tiefgang“ gehabt, aber nicht bekommen. Spekulationen, dass es da dann wohl grundsätzliche Differenzen zwischen ihm und der sportlichen Führung gebe, befeuerte er noch mit der Anmerkung, das könne man „jetzt interpretieren“. Die Konfliktlinie war gezeichnet.

Die Mannschaft aber, und das gehört zu den ganz wichtigen Erkenntnissen dieser bisherigen VfL-Saison, störte das nicht. Eher im Gegenteil. Tempo und Tiefgang erweiterten plötzlich auch ohne Neuzugang das Portfolio der Wolfsburger Tugenden, und es brauchte schon den FC Bayern mit Weltfußballer Robert Lewandowski, um Glasners Team die erste Saisonniederlage beizubringen. Resistent gegen äußere Einflüsse zu sein, wurde sogar zu einer Art VfL-Markenzeichen. Auch als eine Häufung von Corona-Fällen den Kader vor Weihnachten ausdünnte und vermeintlich Abgeschobene wie Jeffrey Bruma oder selten Eingesetzte wie Yannick Gerhardt auf dem Platz standen, litt das Spiel darunter kaum. „Die Mannschaft ist gefestigt“, stellte Manager Jörg Schmadtke erfreut fest. So gefestigt, dass sie erstmals seit sechs Jahren ein ganze Hinserie ohne Heimniederlage überstand und gegen RB Leipzig wieder nah dran war, auch mal einen der Großen der Liga zu schlagen.

Die Neuzugänge trugen ihren Teil dazu bei – und sie verkörpern glaubwürdig, dass Glasner, Schmadtke und Sportdirektor Marcel Schäfer trotz aller möglichen Differenzen einen Paradigmen-Wechsel in Wolfsburg vollziehen, der nachhaltig wirkt. Spieler, die der VfL holt, sollen hier ihren Marktwert steigern, indem sie für sportlichen Erfolg sorgen – und können den Verein so auch ohne aus einem ewigen Füllhorn fließende VW-Millionen wirtschaftlich stabil halten. Verteidiger Maxence Lacroix ist dafür das Top-Beispiel, er liegt im Gehalt deutlich unter Vorgänger Robin Knoche und ist jetzt bereits erheblich mehr wert als die Wolfsburger für ihn nach Sochaux überwiesen haben. Ridle Bakus Wert ist allein schon durch seinen Einsatz in der A-Nationalmannschaft gestiegen, Sturmtalent Bartosz Bialek zeigt gute Ansätze, und bei Maximilian Philipp, der sich noch schwertut, ist zumindest das wirtschaftliche Risiko gering – denn bis April kann der VfL entscheiden, ob er die Kaufoption für den aus Moskau ausgeliehenen Offensivmann ziehen will.
Ein Neuzugang, der einschlug: Ridle Baku wurde schnell zu einer festen Größe im Spiel des VfL Wolfsburg – und zum A-Nationalspieler.
Ein Neuzugang, der einschlug: Ridle Baku wurde schnell zu einer festen Größe im Spiel des VfL Wolfsburg – und zum A-Nationalspieler.
Alles gut also? So undifferenziert würde das Schmadtke, als Geschäftsführer und Manager der sportliche Boss beim VfL, nicht ausdrücken. Dazu ist seine Lust am Optimieren zu groß. Selbst wenn man mit ihm über Siege spricht, lässt er immer wieder durchblicken, was noch besser laufen könnte und wo Sollbruchstellen in der sportlichen Perspektive lauern. Der 56-Jährige tut das zwar mit Bedacht, aber oft meinungsstark und ohne Filter, in der Bundesliga-Welt der glattgelutschten Stellungnahmen ist er damit ein Exot. Nur in Ausnahmefällen lässt er seine Aussagen von der Medienabteilung gegenchecken. Wird Schmadtke etwas gefragt, gibt er entweder zitable Antworten oder gar keine. Wie das dann ankommt, ist ihm gern auch einmal völlig wurscht. Als sein Trainer im November öffentlich über verfehlte Transferziele sprach, watschte ihn sein Vorgesetzter ebenso öffentlich ab. „Die Vorstellungen, die von ihm kamen, waren nicht realisierbar“, sagte Schmadtke. „Das ist ja nicht Phantasialand hier. Man kann nicht Dinge haben wollen, die unrealistisch sind.“ Eine Aussprache sorgte schließlich dafür, dass aus der zwangsläufig folgenden Trainer-Diskussion kein Trainer-Aus wurde. Gut vier Wochen später bezeichnete Glasner sein Verhältnis zu Schmadtke schmallippig als „professionell“, den Zusatz „mehr aber auch nicht“ musste man sich denken.

Seit der VfL 2017 und 2018 knapp dem Abstieg entgangen ist, ist „Kontinuität“ ein großes Thema in den Allerwiesen. Der Verein sehnt sich geradezu nach Situationen, von denen man sagen kann: Gut, wenn‘s so bleibt. Aktuell gilt das auch für das Verhältnis von Trainer und Manager, das unter der Überschrift zu stehen scheint: Solange der sportliche Erfolg stimmt, muss man sich ja nicht übers nötige Maß hinaus mögen. Und solange Sportdirektor Schäfer als Scharnier zwischen beiden funktioniert und es weiterhin schafft, sich dabei nicht aufzureiben, kann‘s ohne Probleme weitergehen.

Zumal Schmadtke über einen reichlichen Erfahrungsschatz verfügt, wenn es darum geht, mit Trainern eher sachlich-distanziert als herzlich-lobhudelnd zu verfahren. In Köln führte der Bruch mit Trainer Peter Stöger zwar schlussendlich zum Schmadtke-Abschied, in Hannover aber lief‘s sportlich gut, obwohl Schmadtke und Coach Mirko Slomka irgendwann nicht einmal mehr versuchten, ihre Antipathie zu verbergen. Und in Wolfsburg führte Bruno Labbadia den VfL in die Europa League, als Schmadtke längst verkündet hatte, dass die Chemie zwischen dem Boss und dem Trainer „manchmal einfach nicht stimmt“, ohne dass man dafür die Gründe benennen will oder kann. Die Frage, ob man dann trotzdem weiter miteinander arbeiten möchte, beantwortete Labbadia für sich anschließend mit seinem Abschied aus Wolfsburg. Daran denkt Glasner, dessen Vertrag wie der von Schmadtke bis 2022 läuft, nicht. Und es gibt ja auch Beispiele dafür, dass ein vermeintlich enges Verhältnis zwischen Trainer und Manager nicht für immerwährende Zusammenarbeit sorgen muss. Dieter Hecking etwa, seit gemeinsamen Aachener Zeiten mit Schmadtke befreundet, verstand sich in Mönchengladbach mit seinem Chef Max Eberl prima – und wurde von selbigem trotzdem vor die Tür gesetzt, als mit Marco Rose das verlockendere Fußballlehrer-Profil am Horizont aufleuchtete.
Sechs Menschen, drei Geschäftsführer, viel Leere: Tim Schumacher, Michael Meeske und Jörg Schmadtke (oben von links) auf der Tribüne der Volkswagen-Arena.
Sechs Menschen, drei Geschäftsführer, viel Leere: Tim Schumacher, Michael Meeske und Jörg Schmadtke (oben von links) auf der Tribüne der Volkswagen-Arena.
Fraglich bleibt dennoch, wie stabil das Wolfsburger Zweckbündnis ist, wenn die Problemstellungen komplizierter werden. Und angesichts der Pandemie-Bedrohung, die die Sinnhaftigkeit von Profi-Fußball insgesamt infrage zu stellen droht, wird der Rest der Saison sowieso alles andere als einfach. Gerade der VfL steht nach der Häufung der Corona-Fälle im Dezember unter besonderer Beobachtung, die Online-Ausgabe der 11Freunde hat sogar ausgerechnet, welche Sieben-Tage-auf-100.000-Einwohner-Inzidenz die Covid-Lage auf dem VfL-Gelände ergeben würde. Sie kam auf einen Wert von „hochgerechnet round about 17.000“.

Dass mit Marin Pongracic ein von Corona genesener Profi wegen womöglich verzögerter Folgen noch Wochen nach der Erkrankung kraftlos wirkte und ausgewechselt werden musste, war allerbestes Skeptikerfutter. Und es hätte leicht den Weg zum nächsten Konflikt bahnen können. Denn dass Glasner den Verteidiger im Spiel bei Union Berlin überhaupt einsetzte, fünf Tage danach unnötigerweise seine wiederhergestellte Wettkampftauglichkeit verkündete, um ihn dann gegen Leipzig doch zu schonen, sorgte VfL-intern durchaus für hochgezogene Augenbrauen. Auch im Wettkampfsport, dessen Reiz ja vor allem in der Unvorhersehbarkeit liegt, will der Umgang mit unbekannten Variablen geübt sein. Für Glasner ist das „einfach die Herausforderung unserer Zeit“, ob im Fußball oder anderswo.

Was Corona mit dem Fußball macht und wie der Fußball mit Corona umgeht, wird für den Rest der Saison eine große Rolle spielen, womöglich Aufstellungen und Ergebnisse beeinflussen, vielleicht sogar den Spielbetrieb durcheinanderwirbeln oder stoppen. Sportliche Zielsetzungen muss es dennoch geben, egal wie groß der Vorbehalt ist. Für den VfL heißt das: Er ist im Kampf um die europäischen Plätze dabei, will mindestens in die Europa League. Und schon sind wir wieder bei einem Umstand, der die Sache kompliziert macht. Denn das Pokal-Aus der Bayern hat ein wenig das Risiko erhöht, dass in diesem Jahr der DFB-Pokalsieger nicht aus den Top-Sechs der Tabelle kommt - und dass damit Platz sieben nicht für Europa reicht. Rang sechs sähe dann ebenfalls weitaus weniger verlockend aus, denn er würde in die „Conference League“ führen, der neuen dritten Liga auf europäischer Ebene. Um also sicher in die dann etwas aufgewertete Europa League zurückzukehren, muss der VfL Fünfter werden. Das ist ihm zuletzt vor sechs Jahren gelungen.

Schmadtke weiß, dass es einen besonderen Ehrgeiz braucht, um es wieder nach Europa zu schaffen. Kurz vor dem Ende der Hinrunde packte er im ZDF-Sportstudio diesen Ehrgeiz erstmals in griffige Worte. Die Europa League sei „wünschenswert“, fürs Erreichen der Champions League wäre man in Wolfsburg „sehr dankbar“. Allein schon wegen des Geldsegens, der gerade in Corona-Zeiten eine noch größere Rolle spielen kann als sonst. „Momentan ist sicherlich nicht alles machbar, was letztes Jahr vielleicht noch möglich gewesen wäre“, hat Finanzgeschäftsführer Tim Schumacher erklärt. Mit Blick auf die Transferaktivitäten des VfL hieß das offenbar zuletzt: Alles über 10 Millionen Euro ist schwierig, alles über 15 Millionen Euro unmöglich.

Die Champions League könnte da den Spielraum erweitern. Unrealistisch ist das nicht – aber um solche Ambitionen offensiv verkaufen zu können, müssten die Wolfsburger auch mal ein Top-Team schlagen, und sei es mit etwas Glück. Was Hoffnung macht: Mönchengladbach, Leverkusen, Dortmund, Leipzig, sogar Bayern – allen Stammkunden der Königsklasse fehlt es in dieser Saison an Konstanz. Für den VfL-Ehrgeiz gilt auch hier: Gut, wenn‘s so bleibt.

Und was muss dann aus Wolfsburg kommen? „Wir bräuchten mal eine Serie von vier, fünf Siegen in Folge“, ahnt Schmadtke. Und: „Wir müssen auch mal ein Team schlagen, das über uns steht.“ Schon der Rückrunden-Auftakt bei Bayer Leverkusen bietet die erste Gelegenheit dazu, an drei der letzten sechs Spieltage stehen mit dem FC Bayern, Borussia Dortmund und RB Leipzig drei Gegner aus dem obersten Liga-Regal auf dem Wolfsburger Plan. Wenn der VfL dann tabellarisch noch in deren Nähe ist, hat er vieles richtig gemacht. Trotz Corona. Trotz einer eher defensiven Transferpolitik. Und trotz des nur „professionellen“ Verhältnisses zwischen Manager und Trainer. von Andreas Pahlmann
                      
zurück zur Übersicht VfL Wolfsburg